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OFFENLEGUNG DURCH METAMORPHOSE

Gemeinsam mit Matthias Goerne, einem der bedeutendsten Schubert- und Lied-Interpreten unserer Zeit, führt das ZKO Schuberts Liedzyklus Die Winterreise auf – und zwar in einer Bearbeitung von Massimiliano Matesic, in der durch die Metamorphose des Klaviersatzes vieles subkutan Schlummernde an die Oberfläche dringt.

TEXT LION GALLUSSER

In der Gesellschaft des Biedermeier im historisch fragilen Kontext zwischen Wiener Kongress (1815) und Revolutionen (1848) galten bürgerliche Sittlichkeit und Geregeltheit sowie ein gewisser Konservatismus als Ideale. Der unmittelbar persönliche Ausdruck grosser Emotionen und Leidenschaften, der in der Romantik en vogue gewesen war, hingegen erschien suspekt und wurde durch den Rückzug ins Private oder die scheinbare Idylle ersetzt.

Unter der Oberfläche des Biedermeier aber brodelte es mitunter, insbesondere bei den politisch und persönlich Unzufriedenen. Wenn sich diese nun unverhohlen deutlich bemerkbar machten, führte dies zu heftigen Reaktionen – und nicht selten zu Ablehnung.

Genau dies erfuhr Franz Schubert mit seiner 1827 entstandenen Winterreise. Bereits sein engster Freundeskreis, dem er den Liedzyklus im Hause seines Freundes Schober präsentierte, konnte nur wenig mit der «düsteren Stimmung dieser Lieder» anfangen. Schubert hingegen war begeistert von den «schauerlichen Liedern», in denen es um einen Wanderer geht, der in der Winterlandschaft und in gesellschaftlicher Isolation seiner Liebe nachtrauert – hin- und herpendelnd zwischen bitterer Realität und schmerzlich vermisster Vergangenheit.

Nicht zuletzt, weil sich Schubert – der damals schon einige Zeit an Syphilis litt und nur gut ein Jahr später 1828 sterben sollte – persönlich sehr stark mit den düsteren Liedtexten beziehungsweise den zugrunde liegenden Gedichten von Wilhelm Müller identifizierte, setzte er diese Düsterkeit auch in einer äusserst eindringlichen und berückenden Musik um. Mit diesem im Biedermeier ungewöhnlichen Ansatz scheint er sein erstes Publikum überfordert zu haben. Für den ungeheuren Ausdruck in der Winterreise wertete Schubert auch die Rolle der Klavierbegleitung, die massgeblichen Anteil an der unmittelbaren Bildhaftigkeit des Zyklus hat, ganz entschieden auf. An ein Orchester mit noch mehr Möglichkeiten als Begleitung zu denken, lag aber noch völlig fern, etablierte sich das Lied (mit Klavierbegleitung) damals doch erst im Eigentlichen als eigene Gattung. Erste Orchesterlieder hingegen sollten erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstehen.

Genau an diesem Punkt wiederum setzte der in der Schweiz lebende Komponist und Dirigent Massimiliano Matesic, der dem ZKO eng verbunden ist, an. In seiner Bearbeitung von Schuberts Werk, die er keinesfalls als «Arrangement», sondern «als Instrumentierung und im weitesten Sinne als Metamorphosen» auffasst, orientierte er sich an der Hochblüte des Orchesterliedes, die mit Gustav Mahler um 1900 erreicht war. «Ich wollte meine Bearbeitung sowohl im Geiste Schuberts als auch in jenem Mahlers schreiben. Die Instrumentierung nach Mahler, dessen Werk – man denke an die Kindertotenlieder – auch mit jenem von Schubert einiges teilt, ist das Fundament meiner Bearbeitung.» Tatsächlich erfährt Schuberts Komposition in der durch Mahler inspirierten Orchesterfassung von Matesic eine Tiefe im Ausdruck, die wohl just «im Geiste Schuberts» gewesen wäre, die dieser aber neben der Stimme «nur» mit einem avancierten Klaviersatz ausdeuten konnte. Anders gesagt: Durch die Metamorphose in den Orchesterklang wird viel vom musikalischen Reichtums Schuberts, der bei ihm gezwungenermassen in einer sehr effektvollen Sparsamkeit angelegt wurde, an die Oberfläche transferiert. Dies war auch für Matesic eine prägende Erfahrung: «Beim Auffächern von Schuberts Musik auf die Vertikale der zahlreichen Orchesterstimmen kamen verschiedene Nebenstimmen zum Vorschein – eine wirkliche Entdeckung für mich!»

«Ich wollte meine Bearbeitung sowohl im Geiste Schuberts als auch in jenem Mahlers schreiben.»

WINTERREISE DI, 16. NOV. 2021, 19.30 UHR TONHALLE AM SEE

Matthias Goerne Bariton Massimiliano Matesic Leitung Zürcher Kammerorchester

Grosses Abo, Kleines Abo CHF 110 / 100 / 85 / 60 / 35

Franz Schubert Winterreise op. 89 D 911, sinfonische Bearbeitung von Massimiliano Matesic